Eine Hymne auf die Wassermelone für die Genussseite der taz.die tageszeitung.
Versunken in der Melonenwolke
Wie verführerisch erschien mir als Kind die Vorstellung, eine Wassermelone in geviertelten Scheiben zu verzehren. In die Mitte hineinzubeißen, den klebrigen Saft über Mundwinkel und Handgelenke hinunterlaufen zu lassen, zu spüren, wie er auf gebräunte Knie tropft. Im Sommer aßen wir jeden Tag zu Hause Wassermelonenstückchen und jedes Wochenende im Park, nachdem die Grillkohle abgekühlt war.
Doch wie die meisten anatolischen Eltern zerteilte meine Mutter die Wassermelone stets in kleine Stücke. Damit die T-Shirts sauber und keine halb zerkauten Ränder übrig blieben. Eine Wassermelone ihrer kurvigen Pracht gebührend zu schneiden, ist dabei eine Kunst für sich. Mit dem Messer gilt es, jeden Winkel auszuhöhlen, kein Quadratzentimeter Frucht darf verloren gehen.
Die Parks meiner Kindheit wurden von einem kleinen Balkon in Kreuzberg abgelöst. Und genau wie Lebensräume sich ändern, hat auch meine Wassermelone eine neue Gestalt angenommen, sogar einen neuen Aggregatzustand. Vor einigen Wochen habe ich mir zum ersten Mal ein Liquid mit Wassermelonengeschmack für meine E-Zigarette gekauft. Seitdem umgibt mich eine süße Melonenwolke.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich eine Miniatur meiner selbst immer tiefer in dem saftigen, pinken Fleisch der Frucht versinken, einen kleinen schwarzen Kern umarmen und mit ihm eins werden.
Foto: imago-images/Westend61